Essstörungen sind in Österreich, wie in vielen anderen Ländern, ein wachsendes gesundheitliches Problem. Gerade seit der Corona-Pandemie machen sich Essstörungen erhöht bemerkbar. Besonders betroffen sind Jugendliche und junge Erwachsene, wobei Frauen häufiger als Männer an Anorexie (Magersucht), Bulimie (Ess-Brech-Sucht) oder Binge-Eating-Störung (Essanfälle ohne kompensatorisches Verhalten) leiden. „Die MHAT-Studie (Mental Health in Austrian Teenagers) sieht bei rund 31 % der jugendlichen Mädchen und 15 % der jugendlichen Buben ein erhöhtes Risiko, eine Essstörung zu entwickeln.“[1] Da es keine Studien über die Anzahl der Erkrankten für Österreich gibt, lassen sich die Zahlen nur schätzen, Expert:innen sprechen aber von einem massiven Anstieg, gerade bei Jugendlichen.[2]
In diesem Artikel beschreibe ich meine Tätigkeit als Mal- und Gestaltungstherapeutin in der Essstörungsklinik Waiern/Feldkirchen, samt Erläuterung des Therapiekonzeptes und einer kurzen Darstellung des Krankheitsbildes der 3 wesentlichen Essstörungsarten. In der Essstörungsklinik bin ich in einem multiprofessionellen Team eingebunden und biete seit 2022 einmal wöchentlich Mal- und Gestaltungstherapie im Gruppensetting an. Die Diakonie Essstörungsklinik in Feldkirchen, Kärnten, bietet spezialisierte stationäre Behandlungen für Personen ab 16 Jahren, die an Essstörungen wie Anorexie, Bulimie oder Binge-Eating-Disorder leiden. Pro Therapiezyklus werden zwölf Patient:innen für einen Zeitraum von acht Wochen aufgenommen, gefolgt von einer individuellen Nachbetreuung.
Das Behandlungskonzept basiert hauptsächlich auf der kognitiven Verhaltenstherapie, angepasst an die individuellen Bedürfnisse der Patient:innen. Zum Therapieangebot gehören unter anderem Gruppen- und Einzeltherapien, Ernährungsberatung, kreative Therapien wie Mal- und Ergotherapie, Stressbewältigungstraining sowie tiergestützte Therapie. Die Klinik legt großen Wert auf die Förderung der Eigenverantwortung der Patient:innen und übernimmt Kontrolle nur dort, wo es unbedingt notwendig ist. Für eine Aufnahme ist ein Mindest-BMI von 15 erforderlich, und sie erfolgt ausschließlich auf ausdrücklichen Wunsch der betroffenen Person.[3]
Es gibt drei Hauptformen von Essstörungen
Magersucht (Anorexie)
- starkes Untergewicht durch extreme Kalorienrestriktion
- intensive Angst vor Gewichtszunahme
- verzerrtes Körperbild („Ich bin zu dick“, obwohl untergewichtig)
- häufig exzessiver Sport oder Hungern
- fehlende Krankheitseinsicht, gerade am Beginn der Essstörung.
Bulimie (Bulimia nervosa)
- wiederholte Essanfälle mit Verlust der Kontrolle
- danach kompensierende Maßnahmen wie Erbrechen, exzessiver Sport oder Abführmittel
- Gewicht meist im Normalbereich
- starke Schamgefühle und heimliches Verhalten.
Essanfälle ohne Gegensteuern (Binge-Eating-Störung)
- wiederholte Essanfälle, jedoch ohne Erbrechen oder andere Kompensation
- Betroffene fühlen sich nach dem Essen schuldig und unkontrolliert
- oft Gewichtszunahme und Adipositas
- häufiges Essen aus emotionalen Gründen.
Diese Formen können auch ineinander übergehen. Ihnen ist gemeinsam, dass sie mit seelischen Problemen und einem niedrigen Selbstwertgefühl einhergehen. Viele Betroffene versuchen unbewusst, ihre inneren Konflikte über das Essverhalten zu lösen. Die Erkrankung verläuft meist über mehrere Jahre. Je früher eine Behandlung erfolgt, desto höher sind die Heilungschancen.[4]
Ursachen & Risikofaktoren
Essstörungen entstehen durch eine Kombination aus genetischen, biologischen, psychologischen und soziokulturellen Faktoren. Dazu gehören:
- gesellschaftlicher Druck & Schönheitsideale (besonders durch Social Media)
- psychische Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen
- Perfektionismus & geringes Selbstwertgefühl
- familiäre Belastungen & traumatische Erlebnisse
Therapieansatz
Bei der Therapie von Essstörungen im stationären Setting wird erfolgsversprechend der multimodale Ansatz verfolgt. Die Integration verschiedener therapeutischer Ansätze und Schulen ermöglicht eine differenzierte Sichtweise auf die komplexen Problematiken der Patient:innen. Patient:innen mit Essstörungen sind oft in vielen Lebensbereichen gravierend beeinträchtigt, so dass ihre Behandlung nicht ausschließlich auf das auffällige Essverhalten gerichtet sein darf. Die Patient:innen leiden zusätzlich unter:
- ausgeprägter Selbstwertproblematik
- Stimmungsschwankungen und depressiven Rückzugstendenzen
- hoher Leistungsorientierung.
- Störungen im Bereich der Körperwahrnehmung und autodestruktives Verhalten
- Problembehafteter Beziehungsgestaltung, gerade auch in der Sexualität
- Innerfamiliären Problemen mit mangelnder Autonomieentwicklung.
- Verbale Therapien funktionieren durch das starke Kontrollbedürnis der Patient:innen oft nicht.
Durch die Teilnahme an den unterschiedlichen Therapien besteht für Patient:innen mit Essstörungen die Chance, auf verschiedene Weise Zugang zu sich zu finden, und sie erhalten vielfältige Anregungen zur Problembewältigung.[5] Eine Abstimmung mit den Behandler:innen aller Berufsgruppen sowie regelmäßige Inter- und Supervisionen sind unerlässlich, um in diesem Feld gut arbeiten zu können.
Ziele der Maltherapie in der Essstörungsklinik
Die Mal- und Gestaltungstherapie bietet in diesem Rahmen eine sinnvolle Ergänzung zu den oben genannten weiteren Therapieangeboten in der Essstörungsklinik, da sie Patient:innen einen kreativen Zugang zur persönlichen Weiterentwicklung ermöglicht.
Ziele sind insbesondere:
- Ressourcen aktivieren
- Entspannung
- Verarbeitung der Inhalte der restlichen Therapiewoche
- nonverbaler Ausdruck von Gefühlen
- Zugang zur eigenen inneren Welt zu finden und die Kraft der Symbole für sich zu entdecken.
Prinzipien der Maltherapie an der Essstörungsklinik
Folgende Prinzipien wende ich in meinen maltherapeutischen Gruppenstunden an:
Klarheit über den Ablauf und Inhalt der einzelnen TherapieeinheitenViele Patient:innen mit Essstörungen benötigen Sicherheit über das, was passieren wird, und können überhaupt nur gut und entspannt an Therapieeinheiten teilnehmen, wenn sie wissen, was auf sie zukommt. Zu berücksichtigen ist, dass viele Patient:innen eventuell durch Medikamentengaben oder Entgleisung des Mineralstoffhaushaltes intellektuell nicht voll aufnahmefähig sind.
Ablauf
- Befindlichkeitsrunde
- Ich bin einmal wöchentlich an der Essstörungsklinik und fallweise bei den Teambesprechungen, deshalb starte ich mit einer kurzen Runde, damit mich die Gruppe von außen reinholen kann. Über schwerwiegende Vorfälle informiert mich das Pflegeteam im Vorfeld.
- Einführung in das Thema und Malauftrag
- Malsession
- Abschlussbesprechung
Eine klare Themenvorgabe, damit niemand vor einem weißen Blatt sitzen muss. Diese Themenvorgaben (siehe Abbildung 1, Themenvorgabe) sollten klar sein, aber gleichzeitig so offen, dass sich viele Themen und Befindlichkeiten darin spiegeln können. Menschen mit Essstörungen leben oft im Spannungsfeld zwischen dem Sicherheits- und dem Kontrollwunsch.
Folgende Themenvorgaben haben sich bewährt:
- Das bin ICH
- So geht es mir heute (siehe Abbildung 2, „So geht es mir heute“)
- Das ist mir wichtig
- Das gibt mir Sinn
- Das wünsche ich mir (siehe Abbildung 3, Collage „Das wünsche ich mir“)
- Das macht mir Angst
- Das macht mich traurig
- Das macht mich glücklich
- Das stärkt mich, das gibt mir Kraft (siehe Abbildung 4, „Das stärkt mich, das gibt mir Kraft“)
- Das lasse ich los
- Im Zauberladen: Ich nehme etwas mit, was aber nichts kosten darf
- Das schätze ich an mir/dir/der Gruppe.
- Nicht die Krankheit steht im Vordergrund
Die Wertschätzung für den gesamten Menschen mit Stärken und Schwächen und nicht die Symptome der Krankheit stehen im Vordergrund. Die Maltherapie will Ressourcen stärken, entspannen, beleben, die Möglichkeit sich anders und als ganzer Mensch wahrzunehmen, frei von Bewertung und Beurteilung.[6] - Schaffen eines entspannten Settings, in dem keine Bewertung oder Vergleiche im Vordergrund stehen. Indem alle geschaffenen Werke Wertschätzung erfahren und Unterschiedlichkeiten auch in den Werken erfahren werden, soll der Leistungsanspruch nicht befeuert werden
- Vermittlung von Ernsthaftigkeit trotz eines entspannten Settings
Es gibt klare Arbeitszeiten, in denen nicht gesprochen wird und sich jede:r auf die eigene Arbeit konzentriert. Ich schlage auch immer vor, dass Bilder, die vermeintlich nicht dem eigenen Anspruch entsprechen, nicht im Papierkübel landen, sondern aufgehoben werden. - Der Prozess steht im Vordergrund und nicht das Ergebnis. Es gibt keinen „Produktionszwang“, sondern die Patient:innen übernehmen selbst die Verantwortung, die Zeit in der Maltherapie sinnvoll für sich zu nutzen. Sie müssen nichts „der Therapeutin zuliebe“ produzieren
- Viele Patient:innen mit Essstörungen sind sehr angepasst und haben in diesem geschützten Rahmen auch einmal die Möglichkeit, Widerstand zu leisten, etwas nicht zu machen, zu spüren, ob etwas stimmig ist oder nicht; sie haben die Möglichkeit, selbst für sich zu entscheiden.
- Diejenigen, die sowieso im Widerstand sind, können aber auch die Erfahrung machen, dass sie sich aktiv für etwas entscheiden, was ihnen guttut.
- Wir machen auch keine Vernissagen oder Ausstellungen. Jede:r kann für sich entscheiden, ob er/sie das Bild im Kreativraum belässt oder mit auf das Zimmer nimmt.
- Freie Materialwahl
Jede:r darf das Malmaterial verwenden, das er/sie möchte. Die Experimentierfreude steigt mit Fortschreiten des Turnusses automatisch, die Gruppe regt an, ermöglicht das Ausprobieren und Erproben neuer Dinge. Ängstliche Patient:innen werden von der Gruppe oft bestärkt, Neues auszuprobieren.
- Heranführung an die innere Welt
- Die Aufgabe der Kontrolle ist eine große Herausforderung für Patient:innen mit Essstörungen, daher ist die Besprechung der Bilder und ihrer Symbole am Ende jeder Gruppentherapieeinheit eine vorsichtige Heranführung an die eigene innere Welt. Die Deutung erfolgt immer von den Patient:innen selbst. Eine Anreicherung von mir und/oder der Gruppe wird vorsichtig angeboten, wenn dies sinnvoll und erwünscht ist.
- Rühren Bilder an erfahrenen Traumata oder anderen schwierigen Erlebnissen, vereinbare ich mit den Patient:innen, dass sie das Bild zum bzw zur Psycholog:in oder Psychotherapeut:in in die Einzeltherapie mitnehmen. Nach der Gruppenstunde stehe ich zusätzlich für Einzelgespräche zur Verfügung, falls Patient:innen etwas nicht in der Gruppe ansprechen möchten.
Patient:innen mit Essstörungen wirken auf den ersten Blick oft leer, wie Automaten, die in ihren rigiden Regeln und Automatismen feststecken. Gleichzeitig sind sie oft sehr klare und scharfsinnige Beobachter:innen, die farbenfrohe Bilder und phantasievolle Geschichten in sich tragen. Sie sind verspielt, haben große Lust am Malen, sind motiviert sich kreativ auszudrücken und möchten sich aus dem „Feststecken von was auch immer“ befreien. Die Maltherapie kann dazu beitragen, diese Stärken zu beleben, die Selbstwirksamkeit zu stärken und wieder die Verbindung zu sich selbst zu verbessern. Sie hilft die innere Welt auszudrücken. Durch die Maltherapie können wir den Patient:innen helfen, dass etwas in Fluss kommt, bunter, freudvoller und ganzer wird.[7]
Literaturverzeichnis
DANNER-WEINBERGER ALEXANDRA (2008): Kunsttherapie bei essgestörten Patientinnen. In:
MARTIUS PHILIPP, VON SPRETI FLORA, HENNINGSEN PETER (Hrsg.): Kunsttherapie bei psychosomatischen Störungen. Urban & Fischer: München. 299–306
FEHER CHRISTINE (2019): Dann bin ich eben weg. Geschichte einer Magersucht. cbt Taschenbuch: Düsseldorf
Online-Quellen
www.meinmed.at/krankheit/magersucht-anorexie/2600#haufigkeit-von-anorexie-in-osterreich-47913, abgerufen am 12.1.2025
https://oeges.or.at, Österreichische Gesellschaft für Essstörungen, abgerufen am 12.1.2025
https://www.diakonie.at/unsere-angebote-und-einrichtungen/diakonie-essstoerungsklinik, abgerufen am 31.1.2025
https://register.awmf.org/assets/guidelines/051_D-Ges_Psychosom_Med_u_aerztliche_Psychotherapie/051-026ki_S3_Essstoerung-Diagnostik-Therapie_2021-02.pdf, abgerufen am 31.1.2025
Vgl. Pfeiffer, E., Hansen, B., Korte, A., & Lehmkuhl, U. (2005). Behandlung von Essstörungen bei Jugendlichen aus Sicht der kinder-und jugendpsychiatrischen Klinik. na., https://researchgate.net, Download am 31.1.2025
[1] www.meinmed.at/krankheit/magersucht-anorexie/2600#haufigkeit-von-anorexie-in-osterreich-47913, abgerufen am 12.1.2025
[2] www.derstandard.at/story/3000000224763/essstoerungen-mehr-und-immer-juengere-maedchen-sind-betroffen, abgerufen am 30.1.2025
[3] Vgl. https://www.diakonie.at/unsere-angebote-und-einrichtungen/diakonie-essstoerungsklinik, abgerufen am 31.1.2025
[4] Vgl. https://register.awmf.org/assets/guidelines/051_D-Ges_Psychosom_Med_u_aerztliche_Psychotherapie/051-026ki_S3_Essstoerung-Diagnostik-Therapie_2021-02.pdf, abgerufen am 31.1.2025
[5] Vgl. Pfeiffer, E., Hansen, B., Korte, A., & Lehmkuhl, U. (2005). Behandlung von Essstörungen bei Jugendlichen aus Sicht der kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik. na., https://researchgate.net, Download am 31.1.2025
[6] Vgl. DANNER-WEINBERGER (2008): Kunsttherapie bei essgestörten Patientinnen, 299
[7] Ein Roman zu diesem Thema ist sehr zu empfehlen: FEHER (2019): Dann bin ich eben weg. Geschichte einer Magersucht. cbt Taschenbuch: Düsseldorf
Dieser Artikel ist in der Fachzeitschrift für Mal- und Gestaltungsprozesse: *gestaltungsprozesse im Frühling 2025 (Nr. 26.2025) erschienen.